Chroniken aus dem Ahrtal berichten von siebzig Hochwassern in fünfhundert Jahren
„Mitbürger! Die Bewohner des herrlichen Ahrtales wurden durch eine furchtbare Wasser-Katastrophe heimgesucht… [und] gegen Wassernot durch Wolkenbruch gibt es keine Versicherung! (…) Spende jeder sein Scherflein nach Maßgabe seines besten Könnens. Wer schnell gibt, gibt doppelt!“
Was wie ein Hilferuf aus dem Ahrtal nach der Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 klingt, stammt in Wahrheit aus dem Jahr 1804. Schon damals stiegen die Wasserpegel der Flüsse dieser Region in rasender Geschwindigkeit und brachten Menschen in Not und Verzweiflung.
Nur gut, dass die Hilfsbereitschaft auch Anfang des 19. Jahrhunderts groß war: Nahezu 500.000 Reichsmark kamen durch den Aufruf zusammen, eine enorme Summe, wenn man bedenkt, dass das Jahreseinkommen eines Facharbeiters damals bei etwa 1.600 Mark lag.
Insgesamt siebzigmal, so Gregor Amelung bei Reitschuster in seiner Berichterstattung, zählt man in den vergangenen fünfhundert Jahren gravierende Hochwasser im Ahrtal. In alarmierenden Schilderungen fanden sie Niederschlag in zeitgenössischen Chroniken und Urkunden.
In den Jahren 1601, 1719, 1804 und 1910 erlangten die Berichte besondere Dramatik:
1610
So heißt es Ende Mai 1601 in der Antweiler Chronik, schon nachmittags habe sich der Himmel am Tag vor Christi Himmelfahrt verfinstert. Ein Unwetter mit Regen und Hagel sei niedergestürzt, das derart bedrohlich wirkte, dass die Bewohner dachten, der Weltuntergang sei gekommen. Die anschließende Flut habe „neben anderen groissen Schade mitt sich genomen 16 Gebeuten Heusern Scheuren und Stellen und … 9 Personen [sind] ertrunken.“ Antweiler befindet sich am Oberlauf der Ahr.
1719
Im Jahr 1719 kam es einige Monate später zur Katastrophe. Die Chronik vom Stift Kalvarienberg in Bad Neuenahr-Ahrweiler berichtete von einem Hochwasser von derartiger Vehemenz, dass in Heppingen am 1. August eine Mauer von der Flut einfach „umgeworffen“ worden sei. Ähnliches trug sich in einer Allee zu, deren Pfosten „bis nach Lorsdorf getrieben“ sind, also etwa zwei Kilometer flussabwärts. Zwei Knechte und eine Verwalterin hätten sich vor der Flut nur noch dadurch retten konnten, dass sie in die nächsten Bäume geklettert seien. Laut zeitgenössischer Berichte kamen bei diesem Unglück ingesamt 63 Menschen ums Leben.
1804
1804 zählte man im Ahrtal 70 Tote.
Ähnlich versanken Pferde, Zugrinder und Vieh in den Fluten. Insgesamt wurden 129 Wohnhäuser, 162 Scheunen und stallungen, 18 Mühlen, acht Schmieden und nahezu alle Brücken zerstört. Weitere 469 Wohnhäuser, 234 Scheunen und Ställe, zwei Mühlen und eine Schmiede wurden Beschädigt. Kirchen und Häuser standen fast ausnahmslos unter Wasser. Obstbäume wurden entwurzelt, Weinberge weggespült, die Ernte vernichtet und die Wiesen der Auen mit Kies und Geröll versandet.
Zum diesem Zeitpunkt lag das Ahrtal im Verantwortungsbereich der französischen Behörden. Nach ihren Meldungen aus dem Sommer des Jahres habe der Fluss Bereits seit Tagen Hochwasser geführt. Am 21. Juli sei ein Unwetter erfolgt, dass alle Nebenflüsse in Windeseile anschwellen ließ. Dann kam die Flut. Das gesamte Getreide sei überschwemmt worden.
Pastor Fey aus dem sechs Kilometer flussabwärts gelegenen Bodendorf notiert damals in sein Tagebuch: „Den 21. [Juli] bin ich mit He[rrn] Dechant Radermacher über den Berg nach Remagen [am Rhein] gegangen und oben auf dem Berg fang es dergestalten an zu regnen, daß wir beide bis an die Haut naß in Remagen angekommen. In selber Nacht ist auch die Ahr so angewachsen, dass … alle möglich Hausgeräthe, Bauhölzer und todte Menschen auf dem Felde gefunden worden, die mit der Ahr dahin getrieben“ worden waren.
An die verheerende Flut erinnert heute noch eine Tafel im Bürgerhaus von Dorsel am Oberlauf der Ahr: „21. Julius nachmittags 3 Uhr, stürzte bei einem schrecklichen, von Norden kommenden Gewitter das Wasser in Strömen aus den Wolken, wodurch der Grund von vielen Äckern bis auf die Felsen fortfloß… [und] die Stahlhütte plötzlich ausgelöscht“ wurde. Das Wasser erfasste „große Erdmassen, Sand, Hecken und Stauden“ und riss auch die „sehr starke steinerne Hüttenbrück“ hinweg. An die Dorseler Stahlhütte, zu der die Brücke gehört hatte, erinnert heute nur noch der gleichnamige Campingplatz, dessen Gäste vom jetzigen Hochwasser derart überrascht wurden, dass man sie von den Dächern ihrer Campingwagen retten musste.
Für den Wiederaufbau mobilisierte der Verwaltungsfachmann und Präfekt des Departement Rhin-et-Moselle Präfekt Mouchard de Chaban 1804 einen Arbeitsdienst von 800 Mann und erwirkte Finanzhilfen in Höhe von 120.000 Francs. Hinzu kamen weitreichende Freigaben von Bauholz. Um die Not zu lindern, spendete Napoleon Bonaparte 30.000 Francs. Seine Frau, die Kaiserin, steuerte zusätzlich 4.800 Francs bei. Durch den Spendenaufruf Chabans kamen ferner 45.000 Francs zusammen.
1910
1910 ereigneten sich die Überschwemmungen im Ahrtal Mitte Juni. Allein 52 Menschen kamen dabei ums
Leben. Am Montag, dem 13. Juni des Jahres hielt ein unbekannter Chronist im
Ahrweiler Kalvarienberg-Kloster fest: „So hatte man die Ahr noch nie gesehen.
Ein breites schmutziges gelbes Band zog [sich] … durch die Landschaft, ein
ungewohntes, alles übertönendes Rauschen machte sich von Minute zu Minute
aufdringlicher bemerkbar. (…) Es mochte eben ein viertel nach acht Uhr sein, da
trieb in schnellem Laufe eine ganze Holzbrücke am Westfuß des Klosterhügels
vorbei: kein Zweifel, die Sache war ernst. Und sie wurde zusehends ernster. Das
ungeübteste Auge konnte ein rapides Steigen des Wassers wahrnehmen. (…) In
gewaltigen, sich überstürzenden Wellen kam die Hochflut herangezogen, in
rasender Fahrt alles mit sich fortreißend, was ihr im Wege stand.“
Nach dem Unwetter habe sich „an
vielen Stellen… im Ahrtal ein Bild der Verwüstung“ geboten, so der Eintrag von
Archivar Leonhard Janta und Architekt Helmut Poppelreuter im Heimatjahrbuch aus
dem Kreis Ahrweiler von 2010: „Ein entsetzlicher Geruch“, so ein Zitat aus
einem zeitgenössischen Bericht, „verbreitet sich aus dem Wasser durch das
Carbid, das zur Beleuchtung gebraucht wurde und nun unter Wasser geraten ist.
In den Straßen liegen im strömenden Regen Betten, Möbel, Kleider, Hausrat wirr
durcheinander.“
Unmittelbar nach der Katastrophe,
so Janta und Poppelreuther, wurde eingehend vor Diebstählen gewarnt: „Zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung forderten die Behörden …
Polizeikräfte aus der Umgebung und Soldaten an. Aus Koblenz kamen Pioniere der
68. Kompanie, um unter anderem Notstege zu bauen und bei den
Aufräumungsarbeiten zu helfen. (…) Von anfangs 200 geschätzten Todesopfern
musste die Zahl sukzessive nach unten korrigiert werden. Sie lag schließlich
bei 52“. Unter den Toten war auch der Pfarrer aus der kleinen Gemeinde Rech,
dessen Leiche erst ein Jahr später „unversehrt im Schlamm bei Marienthal
aufgefunden wurde“.
Die verheerende Flut verzögerte den
Ausbau der Ahrtal-Bahn, weil sie die Straßenbrücken zerstörte, Gerüste,
Kantinen, Bauholz und schwere Maschinen mit sich riss. Angereichert mit dem
kantigen Material, richtete das Wasser flussabwärts weitere Schäden an.
Grund für die Häufigkeit der Katastrophen
Grund für die Häufigkeit der Katastrophen ist eine spezifische geografische Besonderheit dieser Region. Als nördlichste Nebenfluss des Rheins umfasst die Ahr mit einer Länge von 90 Kilometer und einem Einzugsgebiet von 900 Quadratkilometer, im Vergleich zu anderen Nebenflüssen, ein verhältnismäßig kleines Fluss-System. Kennzeichnend dafür sind allerdings seine großen Höhenunterschiede. Die tiefen Täler mit den engen Windungen der Flussläufe wirken wie ein Trichter. Hinzu kommt, dass der Untergrund in dieser Region mehrheitlich aus Schiefer besteht, einem Gestein, das nahezu komplett wasserundurchlässig ist. Nicht umsonst wird es verwendet, um Dachstühle zu sichern und Hauswände abzudecken.
Normalerweise kommt es im Gebiet der Ahr nur zu geringen Niederschlägen, weil die aus dem Westen kommenden Regenwolken zuvor im Bereich der Eifel und der Ardennen abregnen. Nach plötzlich einsetzenden Gewittern, Schneeschmelze oder anhaltendem Regen kann sich das allerdings sprungartig ändern. Der lieblich anmutenden Flusslauf verwandelt sich dann in kurzer Zeit zu einem rasenden Strom, bildet Sog und Strudel, reißt alles und jeden aus seiner unmittelbarer Nähe mit sich.
Dank eines Netzes von Pegelstationen, moderner Wettervorhersagen und einem Regenradar, der die Krisenstäbe in Echtzeit informiert, könnten die Menschen im Ahrtal frühzeitig gewarnt und eine Evakuierung angeordnet werden. Anders als in größeren Städten, sind die Ortschaften dort ferner einigermaßen bevölkerungsarm. So zählt die Gemeinde Schuld nur 660 Einwohner, Mayschoß 911 und Altenahr mit den Ortsteilen Altenburg, Kreuzberg und Reimerzhoven etwa 2.000. Eine Evakuierung wäre also nicht nur naheliegend, sondern für eine Mehrzahl der Betroffenen auch leicht realisierbar. Die Pläne für die Frühwarnsysteme liegen bereits in den Schubladen. Sie wurden bisher lediglich nicht umgesetzt.
PDF-Artikel zum Thema
Links zum Thema
- Liste der Hochwasserereignisse an der Ahr (WIKIPEDIA)
- Hochwasser der Ahr am 21. Juli 1804 (WIKIPEDIA)
- Hochwasser der Ahr am 13. Juni 1910 (WIKIPEDIA)
- Katastrophale Zerstörung und massive Hilfsbereitschaft (Blick aktuell)
- Hochwasserkatastrophe am 12./13. Juni 1910 im Ahrtal (Peter Weber / Eifel-Jahrbuch 1991)
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- Liste der Hochwasserereignisse an der Ahr (WIKIPEDIA)
- Hochwasser der Ahr am 21. Juli 1804 (WIKIPEDIA)
- Hochwasser der Ahr am 13. Juni 1910 (WIKIPEDIA)
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- Hochwasserkatastrophe am 12./13. Juni 1910 im Ahrtal (Peter Weber / Eifel-Jahrbuch 1991)
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